Üben, wie und wieviel?

Zäumen sie das Pferd von hinten auf und stellen sie sich zuerste folgende Fragen:

  1. Was will ich erreichen?
  2. Wieviel sollte ich üben um obiges Ziel zu erreichen?
  3. Habe ich überhaupt die Zeit bzw. das Feuer und die Disziplin um obiges Ziel zu erreichen?
  4. Habe ich eigentlich Spass am Üben?
  5. Will ich üben oder nur Dudeln?
  6. Ist meine Fremd- und Selbsteinschätzung im Einklang?
  7. Ertragen sie das Gap zwischen Soll und Haben (Wunsch und Wirklichkeit)
  8. Trainieren sie kleine Happen und formen das zu einem Ganzen

Nachdem  sie sich die allererste Frage gestellt haben, ist alles sonnenklar! Sie wissen, dass sie in Nashville Studiogitarrist werden wollen oder Endoorser bei Fender. Dann wissen sie auch, dass sie ca. 6 Stunden pro Tag im Minimum üben sollten. Nun haben sie Frau und drei Kinder plus einen 70 Stunden-Woche Job. Frage geklärt dh. Zielvorstellung anhand der vorgegebenen Zeit anpassen. Ein ähnlicher Vergleich mit meinem Hobby: Ich studierte früher x komplizierte Modellbahn-Gleispläne und dachte doch voll im Ernst, dass ich in den nächsten Monaten so eine Anlage bauen könnte. Genau betrachtet wäre der Zeitaufwand immens (Unterbau, Gleise, Landschaft, Häuser, Elektrik, Elektronik) und es erstaunt immer wieder, wie man sich verschätzen kann.

Sie wissen partout nicht, wieviel sie üben können? Mein Vorschlag wäre, dass sie die Planungsphase verlassen und mal 14 Tage den Ernstfallproben und die Häufigkeit (Und Effizienz) der Übungssessions notieren. Das ist eine gute Ausgangslage!

Nun haben sie den zeitlichen Aufwand mal abgecheckt. Aber ehrlich, haben sie das Feuer, sich an die Zeiten zu halten oder wird es eher ein «Morgen ist auch noch ein Tag…» Das Uebungsprotokoll gibt ihnen Auskunft. Ich kann ihnen das Uebungsprotokoll überhaupt als ständige Massnahme empfehlen. Sie können die Termine plus die Songs oder den Stoff, den sie üben in die Agenda eintragen. Fortschritt garantiert!

Der Spass am Ueben ist auch ein wesentlicher Faktor. Wenn sie sich, wie ein blutleerer Zombie an die Gitarre quälen müssen, so wird das auf Dauer nix. Eigentlich logisch, aber immer noch in den Köpfen, da viele von uns als Kind zum Ueben gezwungen wurden: «Hast du auch brav Blockflöte geübt?…..» Schon die Wort-Kombi «brav, üben und Blockflöte» hat einen Erschaudern lassen. Und meine Blockflöte hat gequitscht wie eine Ente auf Koks» Also weg mit den alten Zöpfen, haben sie Freude am Ueben und am Beobachten, wie sie immer besser werden. Gitarre sollte Spass machen.

Ja, und dudeln sie nicht. Sie können sagen, sie haben eine Stunde Gitarre geübt, meinen aber damit, dass sie das gespielt haben, was sie schon eh können bzw. man hat rumgedudelt ohne Sinn und Plan. Ist auch wichtig, doch im Kontext mit dem besser werden, häufig nicht sehr produktiv.

Ich sehe drei Uebungsphasen:

Erste Phase
Man muss langsam etwas erlernen was neu ist. Takt für Takt muss man einen Ablauf einstudieren, der irgendwann mal schnell gespielt werden sollte. Anfangs ein Berg, da das Stück vieeele Takt hat, die es zu erlernen gibt oder neue Akkorde, die einfach nicht sitzen. Man hört sich das Original an, zuerst verlangsamt, seeeeehr verlangsamt, vergleicht es mit der Tabulatur und definiert die Finger, die Lage der Bund sowie die Technik, die es braucht. Eine üble Sache, vom Aufwand her gesehen. Diese Phase durchgehen meine Schüler meist in der Unterrichtsphase, andere via Youtube oder Book. Deshalb ist der der anfangs coole Unterricht später eher was für Disziplinierte, was wie schon mal erwähnt nicht immer dem heutigen Zeitgeist entspricht. Mein erster Plan, den Schüler hauptsächlich Freude zu vermitteln, scheiterte kläglich an der Tatsache, dass für das Erlernen einer Technik Wiederholungen nötig sind. Mit anderen Worten Drill und Abfragen. Immer wieder. Gitarre lernen ist kein Ponyhof, konnte aber feststellen, dass dies mit Wunschsongs seitens der Schüler schneller von statten geht, als mit den alten verstaubten Volkslieder lindert das Ganze. Deshalb immer Kür und Pflicht

Zweite Phase
Der Ablauf wird verinnerlicht. Man spielt alles sehr langsam und mit voller Konzentration. Man liest immer noch ab, aber man erkennt langsam den roten Faden.

Dritte Phase
Man spielt es bereits auswendig, jedoch immer noch langsam. Man ist schon in der Lage sich, nebst dem Spielen, auf was anderes konzentrieren zu können. Ich nenne diese Phase die «Netflix-Phase», die schönste Phase des Trainings-Spektrums. Man schaut sich eine Doku an, hält die Gitarre in den Händen, nudelt die Riffs und Licks durch, die man sich mühselig erarbeitet hat und stellt fest, dass sie an Geschwindigkeit zunehmen. Bonus-Punkt: Ich habe kein schlechtes Gewissen vor der Glotze. für Chips oder klebrige Chicken Wings haben sie eh keine Hand frei, somit alles im grünen Bereich. Ich relativere dies mal für mich persönlich: Entweder habe ich vor der Glotze Essen oder die Gitarre in den Händen. Nachteil: Sie können den Klick, also das Metronom nicht einschalten. Deshalb immer wieder auch ausserhalb Netflix mit dem Taktgeber trainieren. Nur so werden sie sicher, auch im Bereich des Tempos bzw. der Rhythmik.

Nun noch ein wenig «Psychologie»

Ich unterrichte nun viele Jahre und es ist klar, dass ich aus pädagogischer Sicht, den Verlauf des Unterrichts bzw. den Menschen, der vor mir sitzt ein wenig «studiere», um ihn dort abzuholen, um ihm den grössten Nutzen zu ermöglichen. Viele ähnliche Mindsets kann ich jedoch bei allen Schülern feststellen:

Das Unterschätzen der Materie
Das Gitarrespiel sieht bei anderen so leicht aus und man kann sich unmöglich vorstellen, dass das Erlernen der Akkorde bis zu einem Jahr dauern kann, will man sie denn in schneller Manier wechseln. Bitte gebt euch Zeit und nochmals Zeit, bevor die Frustration hoch kommt. «Ich kann die Barré-Akkorde immer noch nicht schnell wechseln und übe und übe!» Ja, Frust pur, war bei mir auch so und ich startete gleich in C-Dur, wo der F-Shape bzw. der F-Akkord schon in der ersten Stunde zum Grundinventar gehörte. Dies mit einem Song wie «Santa Lucia» in einer Zeit, wo die Chefin eines Musikladens noch eine Schürze trug und «Blue Moon of Kentucky (Kentöcki)» noch bestellt werden musste. Heut guckt man Youtube und sieht einen coolen Typen, der es praktisch zeigt, anstelle dass man auf ein Notenblatt starrt. Aber das Trainieren und der Frust bleibt. Es braucht immer mehr Zeit, als das man ahnt. Ich habe mal einen tollen Satz gelesen:

«Man überschätzt, was man in einem Jahr lernen kann und unterschätzt, was man in fünf Jahren lernen kann!» wie wahr, wie wahr.

Selbst- und Fremdeinschätzung
Die Mehrzahl der Schüler, also 9 auf 10 Schülern, sind eher negativ gegen sich eingestellt. Sie achten vermehrt auf Ihre technischen Mängel, statt anzuerkennen, wie weit sie eigentlich schon gekommen sind. Wenn sie etwas gemeistert haben, sind sie nicht glücklich über das was sie können, sondern sie sehen den Berg, den sie immer noch nicht beklommen haben und setzten sich vielfach hohe Ziele. Schülerinnen, die privat einen grossen Karren ziehen (Beruf, Familie, Soziales etc.) sind stärker davon betroffen und sehen das Gitarrespiel als einen klaren Plan mit Zeiteinheiten, Zielen und Erwartungen. Wie vieles im Leben ist der Unterricht (und leider der Stoff) getaktet und wenn der Plan nicht perfekt eingehalten werden kann, so kommt natürlich der Frust hoch, während der Mann hier noch vieles lockerer nimmt. Macht den Unterricht nicht zu einer weiteren Pendenz, dessen Deadlines eingehalten werden müssen. Wir haben ja so schon zu viel offene Pendenzen. Es sollte einfach nur Spass machen. Und wenn der Spass im Vordergrund ist, so läufts von alleine. Lobt euch persönlich auch ein wenig ob kleinen Fortschritten: Aus einer kleinen Phrase gibt es einen Takt, viele Takte ergeben einen Song. Schritt für Schritt, ein Tag nach dem andern.

Ich lehne mich jetzt weit aus dem Fenster und denke es hat auch mit der nationalen Zugehörigkeit zu tun. Wir Schweizer sind per se nicht immer übermässig selbstbewusst (Gipfeli, Herrgöttli, Wienerli…. li li li) während deutsche Kursteilnehmer, und dies ist wohlwollend gemeint) schon ein gesundes Selbstbewusstsein an den Tag legen: «Ich denke ich kann das, weiter!»

Mein Tipp: Wenn ihr das Gefühl habt, ihr könnt nach Monaten immer noch nichts, so zückt meine Linkshänder-Gitarre (Saiten verkehrt rum aufgespannt) und greift mal den ersten einfachsten Akkord mit der rechten Hand. Oh Oh…

Nun gibt es aber auch den Schüler der ein wenig zu viel Selbstbewusstsein hat. Er ist überzeugt, dass er den Anfangs-Teil gleich überspringen kann, ohne Theorie sehr weit kommt und dass die Stücke im Einsteigerbuch ein wenig zu seicht sind. Er will sofort ein Instrumental eines Gott-Gitarristen und teilt mir mit, dass sein Kollege, auf die Frage, wie lange er schon spielt, mit «oh sicher 10 Jahre» geantwortet hat. Er will schon in eine Band und ich traue mich kaum, ihm vorzuschlagen, miteinander eine Stufe weiter unten einzusteigen. Das führt mich dann konkret zu ein paar schriftlichen Schnelltests oder ein paar gezielte Abfragen, wo dann irgendwann der eigentliche Status erkannt wird, oder auch nicht. Es geht immer um den Fortschritt des Schülers, aber hier ist die Selbstblockade grösser.

Also habt Spass am Spiel, beachtet die Fortschritte und noch eine wichtige Sache. Akzeptieren wir im Leben das Gap zwischen was wir sollten und was wir wirklich können. Das ist das Schöne am Alter: Eine gewisse Altersmilde kehrt ein und die quälenden Gedanken, über Dinge, die man immer noch nicht getan, aber geplant hat verblassen. Warum? Mein setzt diese Dinge nicht mehr auf den Soll-Plan und gleicht die Möglichkeiten mit den Zielen aneinander an!

  • Wenn ich seit 40 Jahren ein paar Kilo zu schwer bin, so ist es einfacher, dies zu akzeptieren, als sich 40 Jahre darüber aufzuregen. Es ist wies ist.
  • Wenn ich seit 2 Jahren Gitarrenunterricht jedesmal selbstzerfleischend feststellen muss, dass ich den Uebungsplan nicht einghalten habe, so gilt es, den Plan zu streichen oder zu ändern, anstelle Aerger aufkommen zu lassen.
  • Wenn ich im ganzen Leben noch nie einen Jahresvorsatz durchgezogen habe, so streiche ich das Wort «Jahresvorsatz» aus meinem Vokabular!

Also manchmal mit der Einstellung «Geht mir am A… vorbei» leben und Gitarre spielen. Sie Sonne geht trotzdem auf am nächstenTag. So einfach ist das!

Last but not least: Richtet euch eine Trainingsecke ein, wo alles bereit ist. Wenn vorher die Gitarre ausgepackt, der Notenständer aufgeklappt und die Bücher gesucht werden müssen, ist der erste Elan schon weg.

 

Viel Spass beim Ueben!